Sammlung 1
Holger
Ich habe einen langjährigen Bekannten. Ab und zu treffen wir uns zufällig und reden. Wir tun es wohl gerne, denn nichts und niemand zwingt uns. Unser Reservoir an Themen ist unübersichtlich. Philosophie, steile Thesen, Banalitäten, das Wetter, alles um uns herum, Literatur, sein Leben, mein Leben, oft auch Unsinn. Und Emile Cioran habe ich durch ihn kennengelernt. Doch all das ist nicht wichtig. Mit der Zeit entstand eine nie ausgesprochene Übereinkunft: Im Verlauf des Gesprächs, meist gegen Ende, sage ich zu ihm: "Ich verstehe Dich." Und zum Abschluss sagt er zu mir: "Du hast Recht." Manchmal ist es auch umgekehrt.
Steffen
Du warst mein Held, weißt Du? Damals, ich zehn, Du einundzwanzig. Ein Kind der Siebziger warst Du, längst aus dem Haus. Und ich immer wartend, hinter dem Vorhang am Fenster. Steffen kommt, hatte es geheißen. Vater war nicht da. Auf Arbeit im Theater, alleine im Restaurant, weil ihm unser Essen nicht schmeckte, bei einer Geliebten, was weiß ich. War besser so. Wenn Du dann da warst, gab es nur Dich, Mama und mich. Eine kleine glückliche Welt, die doch groß, spannend und interessant war. Ich saugte jedes Wort auf, das aus Deinem Mund kam und bewegte es in meinem Herzen. An sehr vieles erinnere ich mich heute noch. An Deine Stimme, Deinen Tonfall, Deinen Humor. Du hattest so viel zu erzählen und alles war so lebendig. Es zeigte mir, dass es dort draußen ein Leben gab, das man gestalten, erschaffen und formen konnte; dass man dort Menschen traf, die das ebenso sahen; dass Wünsche und Träume nicht hoffnungslose Sehnsucht bedeuteten, sondern Freude. Du kamst von einem fernen Planeten, wo alles anders war. Und Du brachtest eine Zeit lang Frieden in meine Welt. Wie lange Du auch fort gewesen warst; wann immer Du zu uns kamst, hatte ich keine Angst mehr. Denn unsere Eltern würden sich ihre verdeckten Hiebe und Stiche nicht erlauben. Sie hielten Waffenstillstand in ihrem beinahe geräuschlosen Krieg. Andernfalls hättest Du ihnen die Meinung gesagt, das wussten sie. Und das wusste ich.
Michaela
Einige Jahre lang ging ich zu einer Psychotherapeutin. In einem unserer Gespräche war ich in einem so angenehmen und natürlichen Redefluss, dass ich mich heute gar nicht mehr erinnere, worum es ging. Nur noch an dieses selbstverständlich fließende Gefühl der Selbstsicherheit und Selbstvergessenheit. Plötzlich fragte sie mich: “Sie sehen sich also als Künstler?” Ich war wie vom Donner gerührt und brauchte einige Sekunden, bis ich wieder Worte fand. “Ja, sicher.” antwortete ich, verunsichert und leicht empört ob dieser Frage, die mit `ja' zu beantworten für mich in diesem Moment so organisch war, dass ich nicht begriff, wie sie mir überhaupt gestellt werden konnte. Langsam begann mein Verstand wieder zu arbeiten. Wann war mir der entscheidende Fehler unterlaufen, der es ihr ermöglicht hatte, mich so heimtückisch zu übertölpeln? Mit einem einzigen Hieb hatte sie mir die kunstvoll gewebte Verkleidung meiner Lebenslüge vom Leib gerissen. Abends fröstelte mich. Ein kühler Hauch des Verstehens wehte mich an. Mir wurde das Leben meiner Mutter klar. Auch als Prima Ballerina an der Staatsoper in Berlin blieb sie immer Arbeiterkind, und das prägte ihre Art, die Welt zu sehen. Und mir wurde mein Leben klar. Ob ich es wahr haben wollte oder nicht: Ich würde immer Künstlerkind sein.
Freiwald
Er heißt Wolfgang, glaube ich. Irgendwann einmal hörte ich, wie ihn jemand Wolfi nannte. Aber fast alle sagen Freiwald. Ich weiß eigentlich nichts über ihn. Dass ich ihn mag weiß ich, und dass ich mich immer freue, ihn zu sehen. Im Aufzug, bei der Essensausgabe oder wenn wir uns kurz im Flur begegnen. Viel mehr als einen Gruß und ein paar Belanglosigkeiten haben wir noch nie ausgetauscht, obwohl wir uns schon jahrelang kennen. Das ist bei vielen Mitbewohnern so in dieser großen Gemeinschaftsunterkunft. Er ist eher ein Bild, ein flüchtiger Eindruck. Um die siebzig, klein, dürr, langes dünnes Haar, ausgeblichene Tätowierungen, etwas steifer Gang, nie in Eile. Einen Teil seines hageren Gesichts bedeckt ein imposanter, schlohweißer Vollbart, der ihm bis zum Bauch reicht. Man sieht ihm das Leben an und ich stelle mir vor, dass es ereignisreich und nicht ganz ungefährlich, aber auch erfüllt und irgendwie frei war. Vielleicht gehörte er früher zu diesen Rockern der netten Art, die sich für Benachteiligte, Gequälte und Wehrlose einsetzen. Das würde mir gefallen, aber das kann auch daran liegen, dass ich solch starke Beschützer als Kind oft herbeigesehnt habe. Er wirkt auf mich gelassen, zufrieden und allein durch sein Dasein beruhigend. Wäre ich Filmemacher, würde ich ihn sofort besetzen. Vermutlich in einem Film mit exzentrisch anarchischer Handlung, wie man sie in den sechziger Jahren machte. Er wäre der omnipräsente Statist und Ruhepol, der immer irgendwo im Bild herum stünde oder im Hintergrund hindurch liefe. Einmal habe ich von ihm geträumt: Da trat ich in den frühen Morgenstunden, eine Tasse dampfenden Kaffee in der Hand, vor die Haustür, nahm einen tiefen Atemzug und genoss die frische Morgenstille. Vor mir der sich belebende, noch finstere Wald und rechts am Horizont ein klarer, plastischer Sonnenaufgang mit einer Fülle von orangen und roten Farbtönen. Und dann, wie das nur in einem Traum sein kann, blickte ich nach links und sah eine strahlende Harley-Davidson dort stehen. Hinter mir hörte ich vertraute, bedächtige Schritte. Ohne Hast, jedoch äußerst zielstrebig, schwebte Freiwald wie eine Erscheinung an mir vorüber, ich hörte seine sonore Stimme ein kurzes, entschlossenes “Servus” sagen, das mich an ein Amen am Ende eines Gebets erinnerte, er stieg auf die Harley, startete den Motor und beschleunige Richtung Sonnenaufgang. Ich sah ihm lange nach, und als er nur noch ein Punkt am Horizont war, dachte ich: “Irgendwo ist ein kleiner Junge in großer Not.”
Gerhard
Oma. Kein Wort. Zwei Weltkriege und nicht ein Wort. Verblichene Fotos, irgendwie vergilbt, gelb oder gräulich braun. Ich dachte immer: Kind im Fasching, als Matrose verkleidet. Nie ein Wort über irgendwas. Die wässerigste Gemüsesuppe, Bassermann verdünnt - “Nimm' man Junge; wenn Du nur hast is jut.” Ich mochte sie.
Mama, hör auf! Erzähl’ doch nicht immer vom Krieg! Ich kannte ihn nicht, doch Du hast ihn irgendwie in mich hineingelegt. Immer wieder. Bis Du nicht mehr konntest, hast Du mir erzählt vom Hunger, vom Verschüttetsein, von der Angst, die Dir mit zwölf abhandenkam aus Gewohnheit, vom Funkenflug, vom Schützen hinten im Tiefflieger, vom Bombenhagel, von den ängstlichen Augen der russischen Soldaten, Finger am Abzug, die durch die Luftschutzbunker gingen, und Du dachtest, dass Du jetzt stirbst. Wie das Wetter war an dem Tag, als Oma am Radio saß und ausrief: “Oh Gott, jetzt ist Krieg!”. Unheimlich, gelb oder gräulich braun, windstill, wie es vor Gewittern ist. Und vom besten Bruder der Welt, Gerhard, still, friedlich, freundlich, gefallen vor Spitzbergen im U-Boot.
Deine Augen wurden gar nicht feucht, doch sie brachen jedes Mal, und dann hast Du immer aufgehört zu erzählen. “Nie wieder Krieg!” sagtest Du mir. Darum hast Du mir das alles erzählt. Das sollte hinein in mich. Niemals Krieg!
Ferdinand
Vor langer Zeit war ich, verloren in meinen frühen Zwanzigern, streunend, suchend, schnüffelnd nach etwas, von dem ich eher hoffte als ahnte, es müsste irgendwo sein oder irgendwie oder irgendwer, in einem Museum. Im ersten Raum saßen fünf Männer auf einer Bank, nebeneinander aufgereiht. Eine Schranke, die mir ein Weitergehen verunmöglichte. Sie saßen mir gegenüber. Es gab nur sie und mich. Keiner erwiderte meinen Blick. In der Ferne fiel eine Stecknadel. Ich wusste, dass ich an den fünf nicht vorbeikommen würde und dass es gefährlich sein könnte, in deren Aura gefangen zu sein, doch ich konnte mich auch nicht abwenden und fortgehen. Einmal probierte ich es und der Befehl erlosch auf dem Weg zu meinen Beinen; ich würde bestehen müssen. Bis auf den mittleren trugen alle wild gewachsene Bärte und waren in grobe Lumpen gehüllt. Er war zwar rasiert, doch konnte man nicht davon sprechen, dass er in Lumpen gehüllt war, es waren eher Fetzen, die ungeordnet um seinen Körper gewickelt waren und einige Nacktheit zuließen. Ihre Augen nicht tot und nicht lebendig. Ohne Richtung. Ich versuchte erfolglos, ihre Blicke zu gewinnen, doch schien ich für sie nicht zu existieren und ich fragte mich, ob sie sich gegenseitig wahrnahmen, sich überhaupt kannten oder vielleicht gar nichts voneinander wussten. Ich setzte mich ihnen gegenüber auf eine Bank und mit der von mir immer weniger wahrgenommen Zeit verfiel ich in Apathie und Gedankenlosigkeit. Irgendwann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, deren Wärme angenenehm war, denn mein Zustand hatte mich zunehmend frösteln lassen. "Wir schließen, bitte gehen Sie zum Ausgang." Nach Stunden fand ich wieder Worte. "Was ist das?" fragte ich. Der Museumswärter lächelte. "Sie sind nicht der erste, dem das passiert. Das sind unsere Lebensmüden."
Ein kleiner Junge
Im Park sitze ich oft an einem Koi-Teich. Dort komme ich zur Ruhe und genieße die Gesellschaft einiger Menschen, die dort auch zur Ruhe kommen. Einmal näherte sich eine Großmutter mit ihrem Enkel. Er konnte bereits laufen, aber noch nicht sprechen. Als er vor dem Teich stand, sah er zum ersten Mal in seinem Leben orange leuchtende, umher schwimmende Fische. Voller Staunen verharrte er bewegungslos, mit weit geöffneten Augen und gelöstem Unterkiefer. Zunächst hielt er den Atem an; als ihn das Leben wieder atmen ließ, erhoben sich sachte seine kleinen Hände. Minutenlang. Ich sah die Oma ebenso gebannt wie mich selbst. "Anbetung", dachte ich, "Reine Anbetung". Ein möglicher Beobachter sah, neben einem kleinen Jungen, zwei Erwachsene, die versenkt waren in die ursprüngliche, ungestörte Anbetung dieses Kindes, das voller Staunen und Bewunderung war für etwas, das es liebte, ohne es benennen oder verstehen zu können.
(© Oliver Kai A. Knütter)