Ich liebe meinen Stein,
den ich vor langer Zeit bekam.
Er war bei mir von Anfang an.
Als ich zum ersten Mal zur Welt kam
und all die Male, die noch folgten,
war er bei mir, anfangs nah und fremd,
dann nah, garstig, ein störendes Glied,
heute nah und mehr als ein Freund.
Er hing mir am Bein,
er lag mir im Weg,
ich wollte ihn weghieven -
er fiel mir auf den Fuß,
ich schnitt mich an scharfen Kanten,
ich rollte ihn vor mir her -
er wirbelte Staub auf -
ich sah nicht mehr,
er verletzte Menschen, die ich liebte,
er ließ mich stolpern und stürzen,
so oft
so oft
so oft.
Dann war da ein Berg, steil und hoch,
auf dem Gipfel, im Nebel, vage zu sehen,
die Erlösung, sagten sie mir, die Lehrer,
die Treiber, die Richter, die Helfer,
und irgendwann sagte ich es mir selbst,
jeden Morgen,
jeden Morgen,
jeden verdammten Morgen!
Als stolzer Riese rollte ich bergan, mit aller
Kraft, aus jeder Faser meines Körpers,
jeder Zelle meines Hirns, jedem Funken
meines lodernden Willens jedem Atmen
meiner geschliffenen Seele,
näher und näher dem uralten Traum,
unmessbar kurz vor meinem
Paradies, Phönix in Ruhe, Phönix in Frieden,
rollte er grollend bergab, und ich lag,
halb zerstört und ausgeschöpft am
Gipfelgrat, beschämt, verlacht, bedauert
und glitt als häßlicher Zwerg,
rutschend durchs Geröll, zum Stein zurück.
Ein halbes Leben hielt ich durch und dann,
als das halbe zum ganzen zu werden drohte,
stand ich schwankend und zitternd neben ihm,
Kraft sammelnd für den letzten Aufstieg zum Tod.
Ich wollte wieder los, da hielt mich eine Macht,
und ich stand, ich stand wie von Wurzeln gebunden.
Und ich atmete tief, und ich atmete ganz.
Und dann wurde es still um mich, mein Denken schwieg.
Und die Stimme eines Kindes flüsterte:
"Schau' mich an, schau' mich an! Genau!!!"
Die Stimme kam von meinem Stein. Es war mein Stein.
Ich sah ihn an und keine scharfe Kante, keine spitze Ecke mehr.
Ich umarmte ihn unmessbar lange und plötzlich, ohne es zu tun,
saß ich auf ihm.
Nach einer Weile hob ich meinen Blick und ließ ihn schweifen,
da sah ich um mich herum und soweit mein Auge reichte
Menschen, die auf Steinen saßen.
Hier sitze ich heute noch, auf meinem Stein,
von hier gehe ich aus, hierher kehre ich zurück.
So lebe ich, und ich lebe gut und still und fest.
Sissyphos, der rollte, wälzte und dann
immer wieder zum Entglittenen hinabsah -
Camus hat mir und uns einmal geschrieben,
er könnte auch glücklich gewesen sein.
Das weiß ich nicht, weil ich es nicht wissen kann.
Doch was ich weiß:
Ich bin es. Ein glücklicher Mann.
(© Oliver Kai A. Knütter)