Mein Wortbeitrag bei der Fachtagung des Sozialtherapeutischen Zentrums Prop e.V. im Landkr. Pfaffenhofen a.d. Ilm am 22.09.2023:
AUS DER WELT GEFALLEN?
DIE UNFREIWILLIGE SUCHE NACH HEIMAT-
GEDANKEN EINES STZ-KLIENTEN ZUM TAGUNGSTHEMA
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?
Nun habe ich Sie gleich zu Beginn überfahren mit diesem kurzen, meisterhaften Gedicht von Berthold Brecht aus dem Jahr 1953, das ich meinem Wortbeitrag gerne voranstellen möchte. Es war vermutlich schneller vorüber, als Sie es wahrnehmen konnten; ich darf Sie beruhigen, es kommt in einigen Minuten noch einmal.
Dass ich heute hier zum 20 jährigen Jubiläum des STZ einige Worte sagen darf, freut mich, und ich denke, es ist gut, Ihnen in aller Kürze einige Informationen zu meiner Person zu geben, damit auch diejenigen unter Ihnen, die mich nicht kennen, eine Vorstellung haben, wer hier vor Ihnen steht:
Ich bin Klient, bzw Bewohner in St. Kastl seit Januar 2016 bis heute, mit zwei Unterbrechungen, das heißt, ich bin zweimal regulär ausgezogen und, weil ich in den TWGs, in denen ich dann wohnte, keine stabile Abstinenz erreicht habe, auch zweimal hierher zurückgekehrt.
Selbstverständlich bin ich 2016 nicht von einem fernen Planeten versehentlich als verwaistes Alienbaby hier aufgeschlagen, sondern ich hatte, wie alle Klienten, ein Leben vor dem STZ, mit allem drum und dran. Geburt, Familie, Kindheit, Jugend, Beruf, Hobbies, Beziehungen, Freundschaften, Glück, Leid, Freude und Trauer. Unternehmen Sie gerne kurz einen Ausflug in Ihr eigenes Leben, dann werden Sie nachvollziehen, was alles dazugehört; und genauso bin ich, und sind wir Klienten bedeutend mehr als unsere Diagnosen oder unser Therapieverlauf, auch wenn solches immer ganz wichtig auf dem Papier steht.
Und hier nehme ich nun Bezug auf das heutige Tagungsthema „Heimat“. Denn wir sind hier alle unterschiedlich, wenn es auch gewisse Parallelen gibt. Wie unsere Krankheitsbilder differieren, so tun es auch unsere Erfahrungen, Einflüsse und Entwicklungen, Brüche und Lebenswege. Gerade in unseren postmodernen Zeiten, da nun der Heimatbegriff kaum noch etwas mit Herkunft zu tun hat, und Heimat weniger ein Ort, als vielmehr eine Idee ist, sind die Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte in den Menschen höchst individuell und heterogen; in jedem Menschen vorhanden, doch nicht mehr pauschal definierbar. Der Philosoph Ernst Bloch trieb es auf die Spitze, indem er Heimat als Utopie, als einen Nicht-Ort bezeichnete, als etwas, „das jedem Menschen ins Leben hinein scheint, wo aber noch niemals jemand gewesen ist".
So hoffnungsarm möchte ich das gar nicht sehen und auch nicht ganz so hoch hängen. Ich denke, eine heimatliche Umgebung, in der man gut, zufrieden und nach eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen leben kann, zu finden, bzw sich eine solche zu schaffen und zu erschließen, ist schon möglich. Wenn Heimat eine Idee ist, kann man sich doch auf den Weg machen, diese Idee zu verwirklichen. Der Mensch ist das unbestimmte Wesen, dazu verdammt oder privilegiert, sich selbst zu bestimmen. Da wird es herausfordernd, das mit den immer von irgendwoher drohenden Strukturen und Standards zu vereinbaren, das weiß ich und bin froh, diese Frage nicht klären zu müssen. In diesem Suchen und Finden seiner selbst beachtet und begleitet zu werden, ist vielleicht heimatlich für den Einen; für den Anderen, jung, kräftig, die Sucht hinter sich lassend, schon wieder auf dem Sprung ins Leben, mag ganz praktische Unterstützung und Einbindung heimatlich sein; wieder für einen Anderen ist es vielleicht das Gefühl, eine endgültige Heimat gefunden zu haben und nicht mehr weiterziehen zu müssen und es wird auch einen geben dürfen, der auf Dauer nicht abstinent bleiben kann und öfters mal aufgefangen werden muss. Ein radikal individueller, vorurteilsfreier Blick auf den einzelnen Menschen ist das, was ich mir wünsche.
In Stichpunkten, wie es bei mir nach 2016 weiter ging: Erster Einzug ins STZ, Umzug in die Außenwohngruppe in Pfaffenhofen, Umzug in die Prop-TWG, Rückfälle, Trinkphasen, viele stationäre Entgiftungen, Kriseninterventionen und mehrwöchige Behandlungen in der Danuviusklinik. Zweiter Einzug ins STZ, dreimonatiges stationäres PDT-Programm in der Danuviusklinik, Umzug in eine Refugium-TWG in Ingolstadt. Rückfälle, Trinkphasen, stationäre Entgiftungen und Kriseninterventionen im Klinikum Ingolstadt. Dritter Einzug ins STZ.
Viele Wiederholungen, häufiges Stürzen und Wiederaufstehen. Scheitern und Weitermachen. Kurze Verweildauern in einzelnen Einrichtungen und Krankenhäusern. EINE große Entwurzelung aus dem alten Leben und im neuen Leben dann immer wieder ein Anwurzeln, bald gefolgt von einer neuen Entwurzelung. Wenn es gelingt, sich hier oder dort ein bisschen Heimat zu erschaffen, geht sie wieder verloren. Neue Bekanntschaften, Freundschaften und Beziehungen bestehen nicht lange genug, um tragfähig zu werden. Das Einzige, woran man sich gewöhnen kann, ist der ständige Wechsel und die Instabilität des Außen, die es der inneren Stabilität schwer macht. Alles in allem: Eine langjährige, enorme Kraftanstrengung, die im Lauf der Zeit immer schwerer fällt. Der Wunsch, endlich einmal anzukommen und Ruhe zu finden.
Nun lade ich Sie ein in die Zeitmaschine und wir reisen 7 Jahre und 8 Monate in die Vergangenheit. Es war Januar 2016. Ich wurde in München abgeholt, wir näherten uns langsam St. Kastl, aus den Fenstern des Sprinters blickend, etwas irritiert, sah ich zum ersten Mal Hopfengärten, zu dieser Jahreszeit ohne Hopfen und im Nebel reichlich bizarre Bauwerke. Wir fuhren die kurvige, bucklige Straße herauf, der Sprinter stoppte, ich stieg aus und nun stand ich dort draußen, auf diesem Parkplatz. Hinter mir nicht nur die Fahrt mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, sondern eben auch ein Leben in der Suchthölle, so ausweglos und gefährlich geworden, dass die Soziotherapie als lebensrettende Maßnahme notwendig wurde. Und vor mir lag die Ungewissheit, die Unsicherheit, was kommen würde. Und Unsicherheit ist nichts anderes als eine nicht greifbare Furcht, also Angst.
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?
Da war es wieder, dieses Gedicht von Brecht. Ich habe es deswegen zitiert, weil es sich mir im Verlauf all dieser Jahre immer wieder wie von selbst aufsagte. Immer dann, wenn diese Situation wieder da war. Wenn ich wieder auf irgendeinem Parkplatz stand; ein Leben, das verlassen werden musste, weil in ihm ein sicheres Leben nicht mehr möglich war, im Rücken, und ein unwägbarer, angstbesetzter Neuanfang vor der Brust. Für mich war das immer ein Zustand umfassender gefühlter Heimatlosigkeit. Gleichzeitig war da die Ungeduld, der Wunsch, es solle doch nun endlich einmal alles gut werden. Es mögen Ruhe und Frieden einkehren. Die Sehnsucht nach Heimat. Und nun ist die Katze endgültig aus dem Sack: Ich gehöre zu den Klienten, die tatsächlich Heimat, Stabilität und Langfristigkeit suchen.
Das STZ hier in St. Kastl ist für mich mittlerweile Heimat geworden. Mit allen Klient*innen, denen ich mich bei aller Reibung, die es freilich auch gibt, nah fühle, weil wir alle wissen, worum es für uns geht, ohne viele Worte machen zu müssen. Mit diesem stabilen Stamm von hilfreichen und unterstützenden, meiner Erfahrung nach einfach freund-lichen Mitarbeitenden.
Und nachdem ich Ihnen von dem umfassenden Gefühl heimatloser Leere auf den Parkplätzen des Lebens erzählt habe, möchte ich Ihnen nun von einem Gefühl heimatlicher Hoffnung erzählen, das ich auch erlebt habe. Es war neu für mich, vielleicht, weil ich es überhaupt noch nie in dieser Qualität erlebt hatte, vielleicht aber auch, weil es von all den Anstrengungen und Belastungen der letzten Jahre verschüttet war. Es passierte, als ich Ende letzten Jahres wieder in diesem erbärmlichen Zustand war und spürte: "Da kommst Du jetzt alleine nicht raus!" Ich wünschte mir nur, nicht mehr trinken zu müssen und das über einen Zeitraum, der mir die Chance auf einen neuen Anfang bieten würde, auch wenn es mittlerweile der -ich weiß gar nicht wievielte- Anfang sein würde. Denn wenn ich etwas gelernt und trainiert hatte in all den Jahren, dann waren es neue Anfänge! Da stieg in mir langsam die Erinnerung hoch und nahm in mir Raum an einen Ort, an dem ich mich immer sicher und beschützt gefühlt hatte. Wo einmal jemand, es war Frau Kirschner, zu mir gesagt hatte: "Herr Knütter, es ist niemals eine Schande, zurückzukommen." Ich rief hier an, telefonierte mit eben dieser Frau Kirschner und nach den ersten Worten fühlte ich: "Das ist die Rettung. Jetzt wird es erstmal gut." Mein Umzug wurde organisiert und zum ersten Mal war mein Gefühl auf diesem Parkplatz dort draußen ein anderes. Diesmal war es ein wirkliches Heim-Kommen. Und umso mehr ich mich körperlich und psychisch erholte, desto mehr spürte ich, dass der Boden für eine substantielle und tiefgreifende Veränderung in mir selbst plötzlich bereitet und fruchtbar war. Ich bin überzeugt, dies ist nur in einem Setting wie hier möglich, vor allem mit dieser offenen zeitlichen Perspektive. So setzte es sich fort und nun bin ich wieder sieben Monate hier und spüre in mir wieder Kraft, Energie und Hoffnung. Und ich spüre mich selbst wieder. Dafür ganz einfach ein herzliches Dankeschön von mir persönlich an alle Wegbegleiter*innen, Mitbewohner*innen und Prop-Mitarbeitende!
Abschließend noch, bevor wir uns alle gemeinsam dem gemütlichen Teil der Veranstaltung, dem Herbstmarkt, widmen: Wieder zu sich selbst zu finden und damit auch verlorene Heimat in sich selbst wieder zu erschließen, kann auch damit zu tun haben, etwas wieder zu aktivieren, was einen früher einmal sehr erfüllt hat. Das geschieht hier. Einige haben das Handwerk wieder für sich entdeckt, einige das Kunsthandwerk, einige den Gartenbau, es gibt talentierte Maler, Musiker, Köche, manch einer hat sich seinem früheren Beruf wieder angenähert, bei manch einer sind es auch erstaunliche soziale Ressourcen, die wieder zum Vorschein kommen. Ich selbst habe wieder zum literarischen Schreiben gefunden. Das war einmal mein erster Beruf und meine große Leidenschaft.
Ich möchte Ihnen gerne einen Text von mir mit auf den Weg geben, den ich hier in St. Kastl geschrieben habe und in dem, poetisch verdichtet, vieles von dem enthalten ist, was ich in den letzten Minuten berichtet und in meinem Leben erfahren habe.
Ballade vom Stein
Ich liebe meinen Stein,
den ich vor langer Zeit bekam.
Er war bei mir von Anfang an.
Als ich zum ersten Mal zur Welt kam
und all die Male, die noch folgten,
war er mir nah, anfangs nah und fremd,
dann nah, garstig, ein störendes Glied,
heute nah und mehr als ein Freund.
Er hing mir am Bein,
er lag mir im Weg,
ich wollte ihn weghieven -
er fiel mir auf den Fuß,
ich schnitt mich an scharfen Kanten,
ich rollte ihn vor mir her -
er wirbelte Staub auf -
ich sah nicht mehr,
er verletzte Menschen, die ich liebte,
er ließ mich stolpern und stürzen,
so oft,
so oft,
so oft.
Dann war da ein Berg, steil und hoch,
auf dem Gipfel, im Nebel, vage zu sehen:
die Erlösung, sagten sie mir, die Lehrer,
die Treiber, die Richter, die Helfer,
und irgendwann sagte ich es mir selbst,
jeden Morgen,
jeden Morgen,
jeden verdammten Morgen!
Als stolzer Riese rollte ich bergan mit aller
Kraft aus jeder Faser meines Körpers,
jeder Zelle meines Hirns, jedem Funken
meines lodernden Willens, jedem Atmen
meiner geschliffenen Seele,
näher und näher dem uralten Traum,
unmessbar kurz vor meinem Paradies,
Phönix in Ruhe. Phönix in Frieden,
rollte er grollend hinab, und ich lag,
halb zerstört und ausgeschöpft am
Gipfelgrat, beschämt, verlacht, bedauert
und glitt als hässlicher Zwerg,
rutschend durchs Geröll, zum Stein zurück.
Ein halbes Leben hielt ich durch und dann,
als das halbe zum ganzen zu werden drohte,
stand ich schwankend und zitternd neben ihm,
Kraft sammelnd für den letzten Aufstieg zum Tod.
Ich wollte wieder los, da hielt mich eine Macht,
und ich stand, ich stand wie von Wurzeln gebunden.
Und ich atmete tief und ich atmete ganz.
Und dann wurde es still um mich, mein Denken schwieg.
Und die Stimme eines Kindes flüsterte:
"Schau' mich an. Schau' mich an. Genau!"
Die Stimme kam von meinem Stein. Es war mein Stein.
Ich sah ihn an und keine scharfe Kante, keine spitze Ecke mehr.
Ich umarmte ihn unmessbar lange und plötzlich, ohne es zu tun,
saß ich auf ihm.
Nach einer Weile hob ich meinen Blick und ließ ihn schweifen.
Da sah ich um mich herum und soweit mein Auge reichte
Menschen, die auf Steinen saßen.
Hier sitze ich heute noch, auf meinem Stein,
von hier gehe ich aus, hierher kehre ich zurück.
So lebe ich und ich lebe gut und still und fest.
Sissyphos, der rollte, wälzte und dann
immer wieder zum Entglittenen hinabsah -
Camus hat mir und uns einmal geschrieben,
er könnte auch glücklich gewesen sein.
Das weiß ich nicht, weil ich es nicht wissen kann.
Doch was ich weiß:
Ich bin es. Ein glücklicher Mann.
© Oliver Kai Knütter
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